Schon ein flüchtiger Blick auf die Malerei von Ursula Reichart genügt, um einen atmosphärischen Eindruck zu erhalten. Die Künstlerin changiert zwischen Dickicht und Licht, überträgt das Tempo ihres Malaktes auf die Beweglichkeit der Strukturen – alles scheint zu fließen; gelegentliche Verdichtungen verweisen zugleich auf benachbarte Durchblicke. Es fehlt die feste Form, alles scheint im Übergang. Tiefe und Raum sind keine Konstruktionen, sondern ergeben sich aus dem Fluss der Farbe. Das Resultat ist nicht nur ein festgefügtes Bild, sondern zugleich ein Report ihrer eigenen körperlichen und inneren Bewegungen. Die Ordnung der Dinge fügt sich dem unter.
Diese Ordnung gibt es durchaus: Nicht nur, dass die Malerin offenkundig das Querformat bevorzugt, ihre Malerei erscheint wie ein Durchstreifen des Bildfeldes. Erstaunlich strenge horizontale Schichtungen fügen sich zeilenartig zusammen. Damit entspricht sie der ästhetischen Erwartung des okzidentalen Betrachters; eine dramaturgische Abfolge in der geübten Leserichtung von links nach rechts. Die Unruhe kommt durch die Bewegung des Malaktes und des Farbauftrags selbst – Flecken, die sich dem Fluss der Farbe unterordnen, die Umrissformen der einzelnen Elemente ergeben sich durch Wege, welche sich die flüssige Farbe selbst sucht. Der Trocknungsprozess mündet in geronnene Energie. Doch all diese Freiheiten entfalten sich innerhalb weniger strenger Regeln. Das ist vielleicht ein Hinweis auf die erstaunliche Geschlossenheit des OEuvres von Ursula Reichart. Jedes Bild ist eingebettet in die Bestätigung durch das Vorangegangene und das Nachfolgende.
Sucht man nach kunsthistorischen Haltegriffen, würden sich zwei Kategorien vordergründig anbieten: lyrische Abstraktion und landschaftliche Atmosphäre. Die Bilder scheinen keine abrufbaren Inhalte preiszugeben und erzählen dennoch eine Geschichte. Es geht Ursula Reichart nicht um formale Basisarbeit, die bewusst mit der Grammatik der abstrakten Bildsprache spielt. Sie lässt den Betrachter teilhaben am Malprozess; man spürt die körperliche Auseinandersetzung mit den bildnerischen Mitteln, zugleich aber auch die Poesie, die allem, was die Malerin tut, innewohnt.
Eine Verständnishilfe könnte der altmodische Begriff des „Tachismus“ sein. Diese „Fleckenmalerei“, mal geliebt und mal verpönt je nach kunstideologischer Ausrichtung, schwebt längst jenseits aller zeitbezogenen Anfeindungen und sagt etwas über die körperliche Auseinandersetzung des Malers mit seinem Bildfeld. Die Dynamik des Gebens und Nehmens von Farbe trifft zugleich eine inhaltliche Aussage: Es geht um den Prozess des Berührens, selbst des Verletzens von Bildgründen, das Verlagern der bildnerischen Entscheidung von der Idee im Kopf zur Ausführung auf dem Bildfeld. Diese Unmittelbarkeit hat eine direkte Auswirkung auf die Bildwirkung, die auch den Betrachter „angeht“ im ursprünglichen Sinne des Wortes. Eine bildnerische Korrektur ist natürlich auch möglich: der nächste Arbeitsgang relativiert die daneben- oder darunterliegende Spur.
Bei aller Abstraktion lässt die Künstlerin dennoch zu, dass die Interpretation ihren Spuren folgen kann. Die Arbeit des Betrachters ist das Sammeln von Indizien. Zum Beispiel, dass die Künstlerin gerne in Serien arbeitet, in denen sie Variationen einer bestimmten bildnerischen Idee abarbeitet. Manchmal finden sich in den Bezeichnungen konkrete Hinweise auf Landschaftsformen, wie bei der Gruppe der „Auen“-Bilder. Ursula Reichert verrät dabei, welche Entsprechungen sie in den Auen zu ihrer malerischen Idee gefunden hat: das sind weite Felder in der Rheinebene, die viel Wasser beinhalten, ebenso wucherndes pflanzliches Wachstum und ein Ausgrenzen der Zivilisation.
Bodenloses Land also.
„Bodenlos“ auch die Farbregie der Malerin, ein weiteres Indiz zum Verständnis ihrer Kunst. Wohl fällt auf, dass Ursula Reichart gerne grundlegende Formationen des Landschaftsbildes anwendet – die Schwere sinkt nach unten, leichtere Elemente schweben in der Höhe – doch statt erdiger Töne bevorzugt sie luzide Farben, befreit von landschaftlicher Symbolik. Manches Bild wird geradezu monochrom dominiert von einer vorherrschenden Farbe, ein Blau, ein flirrendes Grün, Abwandlungen von Rot zu Rosa. Die Malerin scheint die geronnene Version der Natur anzustreben, Licht und Atmosphäre statt Konstruktion. Das bestätigt auch eine Betrachtung der Binnenformen. Das Gewachsene, Organische wird spürbar, aber niemals ausgesprochen. Die Zeichen sind frei von jedem Gegenstandsbezug leben vom bildnerischen Temperament der Autorin. Es sind letztlich Chiffren des Atmosphärischen, geschult an der Begegnung mit der Natur.
Rainer Braxmaier